THESEN ZUR KULTURPOLITIK
von TIKK - Temporäre Intervention Kasseler Künstler

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Eine Stadt bezieht ihre Attraktivität aus der Lebendigkeit ihrer Kultur.

In der bisherigen Kulturpolitik gilt der Satz: Kultur ist für die Menschen da. Leider widerspricht bereits eine oberflächliche Analyse dieser These. Zum einen erschwert die durch Geld vermittelte Form unserer gesellschaftlichen Beziehungen jede inhaltliche Auseinandersetzung mit kulturellen Produktionen, zum anderen sind die Rezipienten (und auch Produzenten) von Kultur und Kunst selbst bereits in so hohem Maß Opfer einer Anpassung an ein sie entfremdendes System, welches sie seit Jahrzehnten und Jahrhunderten ausschließlich auf die Bedürfnisse einer kapitalistischen Ökonomie zurichtet. Die Warenproduktion des Kapitalismus schafft einen Menschentyp, dessen Selbstverständnis immer stärker durch schnellstmöglichen Konsum von Waren und unmittelbare Befriedigung im Gebrauch derselben geprägt ist.
Ich konsumiere also bin ich.
Der kulturell interessierte und künstlerisch tätige Mensch wird in der Verwertungsmaschine des Kapitalismus zerrieben bis zur Unkenntlichkeit.
Fortschrittliche Kulturpolitik hat hier ihr Ziel: die Ermöglichung der Menschen als emanzipierte Menschen, als nicht mehr durch die Praxis ihrer kapitalistischen Produktion Gegängelte. Zwangsläufig schließt das den Umweg über die politische Arbeit ein, ohne die eine Veränderung des aktuellen Zustandes ausschließlich mit kulturpolitischen Mitteln bloße Traumtänzerei bliebe.
Dem Produzenten gegenüber steht die Misere des Publikums. Diese Misere beginnt dort, wo es zum einen selbst Produzent seiner Produkte ist (in den Fabriken, Firmen, Dienstleistungsbereichen) - aber von der Verfügung über diese Produktion herausgehalten wird (ein im höchsten Maße undemokratischer, ja diktatorischer Vorgang). Die Kompensation dieser Entmachtung soll in der sog. Freizeit erfolgen. Die Zeit ist knapp, die Befriedigung - oder was dafür gehalten wird - muß schnell erfolgen. Sich Zeit lassen, Muße haben, die Arbeit verlangsamen, unterbrechen - das alles darf nicht sein, schadet dem Profit.
Dieser Misere muß eine fortschrittliche Kulturpolitik gegensteuern.


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Die hier lebenden Produzenten aus den Bereichen Kultur und Kunst sind die Basis jeder kommunalen Kultur.

Der Ausgangspunkt einer Kulturpolitik mit dem Primat der Produzenten kann also nur zweierlei bedeuten:
zum einen die globale und wohl noch in weiter Ferne liegende Umsetzung vergesellschafteter und emanzipierter Produktions- formen - und zweitens, der auf diesem langen aber notwendigen Weg zu tätigende Versuch, so viel wie möglich davon bereits auf nationalem, regionalem oder kommunalem Wege zu realisieren.
Der Ausgangspunkt jeder fortschrittlichen kulturellen oder künstlerischen Praxis, sowie einer diese unterstützenden Politik, müssen die Produzenten sein. Jeder Versuch, scheinheilig einzuklagen, daß wir uns an den Quoten des Publikumszuspruches orientieren müssten, führt dazu, daß die Produzenten ihre ent- fremdete Arbeit so wie bisher verrichten.
Aber sind die Künstler und sog. Kulturschaffenden nicht spezifische Dienstleister für das Publikum?
Unter den herrschenden Bedingungen sind kulturelle und künstlerische Arbeiten immer eingepaßt ins System der Waren- produktion. Trotzdem sind sie mehr. Sie sind auch ein Angebot zur sozialen Kommunikation, zur Auseinandersetzung, zur Entwicklung der allgemeinen und konkreten Möglichkeiten von Menschen.
Jede Arbeit hat ihre unmittelbare Berechtigung, weil sie auf mehr abzielt als auf ihre bloße Verwertung.
Jeder Produzent und jede Produzentin hat einen gewissen Berührungsgrad mit einem Teil der Menschen, die man als Publikum bezeichnet. Die einen einen grösseren, die anderen einen kleineren. Das liegt oft an der Natur der Sache, will heissen, einer gewissen Zugänglichkeit oder Sperrigkeit von kulturellen oder künstlerischen Arbeiten. Aufs Ganze gesehen können wir davon ausgehen, daß die Interessen aller, der Produzenten wie der Rezipienten, erfüllt werden, wenn man die Vielfalt der Möglicheiten zuläßt und fördert.
Aktuell geschieht das Gegenteil: der Popanz der Quote will uns sagen, daß alles, was nicht wirklich die Massen anspricht, daß alles, was nicht die dicke Kohle einbringt in diesem unserem System nichts wert ist und deshalb auch keine Existenz- berechtigung hat. All diese Argumentationsmuster unterliegen einer einzigen Größe: der Geldverwertung. Sie berücksichtigen nicht im mindesten die Bedürfnisse der Menschen nach persönlichem Ausdruck, nach Experimenten, nach der Lust am Spiel, in der erst der Mensch in all seinen Fähigkeiten wirklich zu sich kommen kann.
Sich an der Praxis der lokalen kulturellen und künstlerischen Produktion zu orientieren heisst kommunalpolitisch, sich einen Überblick zu verschaffen, was hier unter welchen Bedingungen produziert wird, was aus einem Verständnis kapitalkritischer Produktionsprozesse hier gefördert und gefordert werden müsste und wie die Prämissen der Kulturpoltik dahingehend verändert werden müssen, daß sie sich tatsächlich auf die Vielfalt der Arbeiten beziehen und nicht so sehr auf die Quote oder auf den Repräsentationscharakter kultureller Events.
Es ist leider nach wie vor gängige Praxis der Kulturämter, dem Bauern mit dem grössten Misthaufen auch noch die meiste Gülle zu liefern.

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Die finanzielle und infrastrukturelle Förderung der Produzenten ist die Grundaufgabe der Kulturpolitik.


Kleines Beispiel für infrastrukturelle Förderung:
Kassel ist eine cleane Stadt. Wer einmal durch die Stadtmitte geht, weiß nach einer Stunde immer noch nicht, was in Kassel läuft. Die Schaufenster sind clean, die Plakatwände sind selten, die Straßenbahnen dem bigbusiness verpflichtet. In der Zeitung fehlt Vieles, Wichtiges geht unter, die Anzeigenblättchen bringen keine Informationen.
Aber es gibt soviel, das gehört und gesehen werden will.
Kunst und Kultur leben vom Zeigen. Aber es ist ein schlechter Start etwas zu zeigen, wenn es nicht angezeigt werden kann.
Kassel hat definitv eine Informationslücke im Aussenbereich der Kulturwerbung.
Es fehlen überall Stellwände, Plakatwände, Schaukästen. Gerade an Stellen mit vielen Menschen: auf Plätzen, vor oder in Bahnhöfen, vor Kinos, Theatern, Museen.
Es ist ein schlechter Witz, daß z.B. durch Brandvorschriften Plakatwände mit kulturellen Veranstaltungshinweisen im Kulturhaus Schlachthof (und Dock 4 und Uni-Bibliotheken und und und...) nicht mehr vorhanden sind. Völlig verrückt sowas.
In der HNA muß man fast schon auf Knien bitten, wenn man seine Veranstaltung mal etwas vorbereitet oder nachbereitet haben will. Ansonsten hängt alles vom Zufall dort ab.
Die öffentliche Wahrnehmbarkeit von Kultur und Kunst  muß im städtischen Interesse liegen. Auch wenn Plakatwände nicht immer sauber sind und Dreck machen - sie vermitteln unmittelbar und schnell das kulturelle Leben einer Stadt. Allein schon in der  Form ihrer permanenten Schmuddeligkeit durch überquellende Infor- mationen bekommt man das Gefühl, daß hier was läuft in der Stadt.
Auch wäre es nötig, die Damen und Herren Unternehmer davon zu übverzeugen, daß ein Teil ihrer ach so sauberen Schaufenster und supertollen Waren sicher keinen Schaden litte, wenn das eine oder andere Plakat hier zur Aufhängung gelangte. Stattdessen ist cleanness angesagt, in den Schaufenstern wie in den Köpfen. Es gibt nichts langweiligeres als die Kasseler Einkaufsmeile.

Oder:
Infrastrukturelle kostengünstige Maßnahmen könnten sein:
der zentralisierte weitere Ausbau einer werbefreien unabhängigen Plattform für Kunst und Kultur in Kassel (Nordhessen), in Zusammenarbeit mit der vom Kulturnetz e.V. erstellten Kulturtopographie. Incl. Veranstaltungs- und Ausstellungskalender, Kontaktadressen, Projektvorstellungen, Porträts von Akteuren etc.
Interaktionsfähigkeit wäre wichtig, weil insbesondere bei Kunst die Einzelrezeption angesprochen also auch abgefragt ist.
Aufstellen von öffentlichen Kulturterminals (an stark frequentierten Knotenpunkten) zur Abfrage dieser Inhalte.
Dies könnte auch Basis eines geschlossenen Intranet für die Kulturschaffenden und Künstler sein.

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Die Förderung kontinuierlicher Arbeit schafft hier langfristig eine sichere Quantität und Qualität.

Es kann auch überlegt werden, ob die Institutionen der sog. Hochkultur sich hier in die Pflicht nehemen lassen können, indem z.B. herausragende Leistungen eines Komponisten der Musikakademie durch eine Werkaufführung des Orchesters des Staatstheaters prämiert werden.
Oder auch mal für eine bestimmte Zeit ein ‚öffentlicher Auftrag‘ erteilt wird: Lehrauftrag, künstlerisches Projekt etc.
Die Frage wäre zu stellen: ist das künstlerische und kulturelle Niveau der in Kassel ansässigen Produzenten hoch genug, um durch kontinuierlich Förderung eine veritable Bandbreite hochwertiger Arbeiten hervorzubringen, die zudem geeignet wären, die Lebensqualität im Hinblick auf die kulturellen Bedürfnisse in Kassel zu heben.
Die klare Antwort: ja! Es müsste nur der Mut vorhanden sein, daraus die richtigen Schlüsse zu ziehen.
Als politische Repräsentanz des bürgerlichen Milieus und mitsamt ihrer Verwaltung hat die Stadt Kassel Angst vor den in der Stadt agierenden Produzenten.
Und: der Prophet gilt nichts im eigenen Land. Eine bekannte Tatsache.

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Man muß lernen, daß die Attraktivität einer Stadt durch nichts so sehr gesteigert wird, wie durch die Faszination einer lebendigen Kulturszene. Kassel hat in dieser Hinsicht noch viel nachzuholen.

Unter anderem sollte ein wesentlicher Schwerpunkt jeder kommunalen Kulturpolitik sein, gegen die Auswirkungen eines Systems anzugehen, das viele, allzuviele Menschen ins soziale und kulturelle Abseits treibt. Beispiele:
Seit einiger Zeit schon ist der Rückwärtsgang in der Frauenpolitik deutlich bemerkbar. Traditionelle Haus und Herd - Vorstellungen nehmen Überhand. Dabei ist es entscheidend wichtig, Frauen, die in kulturellen Zusammenhängen oder als Künstlerinnen arbeiten, eine Sicherheit zu geben im Hinblick auf die Ausübung ihres Berufes, insbesondere  in Fällen von Schwangerschaft, Familien- arbeit oder Alleinerziehung.
Was machen Arbeitslose mit ihrer Zeit? Wie formulieren Jugendliche ihre Vorstellungen in einer Situation ohne Zukunftsperspektiven? In welchen Stadtvierteln müssen welche Initiativen unterstützt oder angeregt werden? Welche Möglichkeiten des kulturellen Ausdrucks liegen brach und könnten Unterstützung gebrauchen? In welcher Form? Ist Kulturpolitik der Versuch, Freizeitbeschäftigung zu organiseren oder ist es mehr?
Ist es nicht nötig, die Burgenmentalität der Hochkultur mit ihren hochgelegten Schwellen zu knacken und die Damen und Herren der Museen und des Theaters in die Stadtviertel zu bitten?
Z.b. das Orchester reist: aber nicht ins Ausland, sondern in die Stadtteile. Nicht ins Kaufhaus zur Stimulation der Warenzirkulation, sondern dorthin, wo noch nie einer live eine Geige oder ein Fagott gesehen hat. An solchen Punkten wirds schön schwierig: was spielen die in der Nordstadt oder in Niederzwehren? Was produziert das Theater in Rothenditmold? Koproduktion des Ensembles in einem Stadtviertel mit Menschen vor Ort? Aufführungen im Stadtviertel und im Theater? Was sich da ändert? Bestimmt nicht nur der Kanon der Stücke.
Und da gäbe es noch viel viel mehr - wozu es nicht einmal grosser Finanzen bedürfte.
...und auch umgekehrt, also, dass das Theater Räume und Logistik öffnet für Aktivitäten aus der Region. Das wird bürokratisch nur über Kooperations- bzw. Dienstleistungsverträge gehen. Ob damit auch Mittelflüsse verbunden sein müssen steht zunächst in Frage, solange alles aus einem Kulturtopf abgefrühstückt wird... Das ist natürlich fiskalischer Horror – und gerade deshalb so lustig. In diesem Zusammenhang müssen dann die finanztechnischen Buchungsverfahren auf ihre Sinnhaftigkeit überprüft werden, denn nicht jede städtische Kulturleistung muß unbedingt nach betriebswirtschaftlichen Gesichtspunkten abgerechnet werden. Oft sind das nur fiktive Buchungskosten, die dann die Kultur- schaffenden aber zu zahlen haben.

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Die sog. Kulturwirtschaft ermöglicht nicht das kulturelle Leben, sondern verwertet die Arbeit der Produzenten.

Der Profit der Kulturwirtschaft bedeutet die Enteignung der Produzenten.
Die Produzenten bedienen die Mietforderungen, ihre Arbeit  legitimiert die Personalkosten der Ämter und Kulturhäuser, die Produzenten sichern die Einnahmen der Werbewirtschaft und eines Teils der Gastronomie, der Veranstaltungstechniker etc. ... und über all das wiederum Steuereinnahmen der Stadt. Und wenn alles bezahlt ist gehen viele Produzenten wieder mit leeren Taschen nach Hause. Die Kreativwirtschaft aber blüht.



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Die kulturellen Traditionen einer Stadt müssen immer im Hinblick auf ihren Nutzen für eine lebendige Kultur betrachtet werden. Tradition und aktuelle Produktion müssen in einem sinnvollen Verhältnis stehen. Die Lebenden haben im Zweifelsfall den Vorrang vor den Toten.

Der Pflege der überlieferten Tradition wird in Kassel viel Raum und Geld gegeben.
Das führt dazu, daß das aktuelle kulturelle Leben, das Kassel zu bieten hat, nur eine schwache Unterstützung erhält. Das mag aus Gründen des Tourismus - also wiederum der Einkünfte kleinerer oder grösserer Unternehmen im Hotel- und Reisegewerbe - durchaus seine Berechtigung haben, dabei wird jedoch vergessen, daß eine Stadt nicht von der kurzzeitigen Stationierung Durchreisender zu einer attraktiven Lebensqualität verholfen wird. Denn genau hier wird eine Stadt wieder zugerichtet einzig aufs Ziel der eigenen Verwertung fürs touristische Publikum. Die Stadt als Ware - und leider nicht als Ort der sozialen und kulturellen Kommunikation.
Jede moderne Diskussion, die um die Frage nach dem  Alleinstellungsmerkmal eines kulturellen Angebotes kreist, verfängt sich in der Schlinge der Inhaltslosigkeit und der Bedeutungs- losigkeit. Die Pflege von Traditionen, insbesondere die Aufrecht- erhaltung von Museen und Staatstheatern muß auf den Prüfstand. Nicht alles was überliefert wird muß erhalten bleiben. Es graut einem jetzt schon vor den Bergen der historischen Überlassungen in hundert Jahren. Wie wollen die Menschen dann mit den Massen an Denkmälern der Vergangenheit fertig werden?
Man muß den Mut zur Lücke wiederfinden. Lasst die Toten ihre Toten begraben, kümmern wir uns um die Lebenden.

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Die Ideologie vom Alleinstellungsmerkmal bezieht ihren Charme aus der unverhohlenen Logik des Tourismus. Dadurch wird für Touristen in Kassel ein Angebot geschaffen, das zugleich dem Aufbau einer attraktiven und lebendigen Stadt widerspricht. Adressat dieser Politik sind Touristen und das Touristengewerbe. Nur bedingt die Menschen hier.

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Das führt zu einer Zombiekultur, in der die großen Toten der Vergangenheit ihr permanentes Stelldichein genießen, der lebendige Rest sich aber bettelnd vor geschlossenen Rathaustüren trifft und ‘Rettet Mich‘ schreit.

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Eine Überzahl von Großereignissen behindert entschieden den Aufbau einer lebendigen kommunalen Kultur.

In den big events, deren Sinnhaftigkeit äusserst fragwürdig ist, verpuffen wichtige Gelder für den kommunalen kulturellen Aufbau.


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Die Legitimation kostenintensiver Institutionen (z.B. Staatstheater) ist zu überprüfen und die inhaltliche Arbeit neu auszurichten. In die vertikale Struktur der Institutionen (wir geben-ihr nehmt) ist die horizontale einzugliedern (Arbeit mit und für...Produktionen in und mit Stadtteilen/Stadtteilgruppen/Künstlern vor Ort).

Für eine fortschrittliche Kulturpolitik darf die Unantastbarkeit traditioneller Förderstrukturen gerade im Hinblick auf Museen, Theater und Großereignisse keine unumstößliche Tatsache sein. Hier gehört einiges auf den Prüfstand. Selbst wenn es bei den etablierten Zuwendungen bliebe, müsste doch inhaltlich die Arbeit der Institutionen anders strukturiert werden. Kultur und Kunst müssen in Zeiten der sozialen Entsolidarisierung zwischen den Menschen, in Zeiten der Degradierung von Menschen zu bloßen Konsumschweinen, in Zeiten der Kriminalisierung jeglichen Widerspruchs, in solchen Zeiten müssen Kunst und Kultur dorthin geschickt werden, wo ihr potentielles Publikum sich befindet - und nicht in den Tempeln der Kunst auf dieses harren. Das setzt inhaltlich die Analyse der gesellschaftlichen Situation voraus, setzt voraus, daß demgemäß eine kulturelle und künstlerische Strategie entwickelt wird. Setzt also nicht voraus: wir machen jetzt mal wieder ein bißchen Programm nach dem alten Kanon der Werte; sondern setzt voraus: was brennt uns auf den Nägeln? Was wollen und müssen wir sehen und hören? Woran müssen wir arbeiten?
Es setzt voraus: die Produzentensprache zu erlernen anhand der Bedürfnisse die offenkundig sind - wenn auch zunehmend unartikulierbarer für die meisten Menschen.
Der Einsatz von Fördermitteln muß sich an einem Programm orientieren, das den lebenden Menschen ihre Möglichkeiten nicht nur vor Augen hält, sondern sie zum Tun, Machen, Gestalten und Umgestalten anregt.
Hier gehts um Auseinandersetzungen, um neue Schwerpunkte, um heftige Kämpfe mit den Verwaltern langjährig etablierter Pfründe.

Hier geht es aber auch um finanzpolitische, steuerliche Eingriffe in die gegenwärtige Struktur der herrschenden Ökonomie.








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Dem Ausbau des musealen Kulturbereichs (der Museen, Archive, Programme des Theaters...) muß gegengesteuert werden zugunsten einer Kultur zeitgenössischer Produzenten.

Problematik Szeemann-Archiv:
- Kassel hat vor Jahren das international renommierte „Archiv Frau und Musik“ nach Frankfurt ziehen lassen.
- Kassel hat jede Menge unterfinanzierte Archive, Bibliotheken, Kulturhäuser. Hier wird dringend Geld gebraucht.
- Der Ankauf eines Archivs (auch wenn es inhaltlich sicher sehr interessant wäre) zieht enorme Folgekosten nach sich. Es droht wie überall eine mittel- und langfristige Mangelfinanzierung, die dann auf die Arbeit und die  Verfügbarkeit des Archivs sich negativ auswirkt.
- Das Archiv soll der Grundbaustein für ein Institut für die Ausbildung von Kuratoren werden. Die Frage, ob nicht bereits das Kuratoren-System seinen Zentit überschritten hat wird nicht gestellt.
- Statt des Szeemann Archivs: Finanzierung regelmäßiger Ausstellungen für Kasseler Künstler u.a. mehr: Auch: eine     bessere Ausstattung existierender Archive oder Bibliotheken mit wissenschaftlicher Literatur und/ oder         Ausbau des skandalös unzureichenden Bestandes an Partituren zeitgenössischer Musik); oder: eine         Ermöglichung längerer     Bibliotheksöffnungszeiten und Zeiten künstlerischer Studien.
(Mittlerweile ist klar, daß das Arcchiv nicht nach Kassel kommt.)

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Es gilt, Inhalte und Ideen zur Diskussion zu stellen. Keine spektakelhaften Events.

Die Praxis der Kooperation von Künstlern und sog. Kulturschaffenden existiert nicht. Jeder versucht seine Pfründe nicht mit anderen teilen zu müssen.
Dabei wäre es keine grosse Sache, hier Gelegenheiten der Kooperation für die Produzenten zu initiieren.
Konkurrenz belebt das Geschäft - und tötet alle, die verlieren. Der zweite Teil des Satzes wird ja gerne vergessen.
Der kapitalistische Konkurrenzgedanke ist tödlich für jede eigenständige kulturelle oder künstlerische Leistung. Daß auf der Suche nach Originalität eine bestimmte Anzahl von künstlerischen Revolutionären von den Kulturverwertern hoch gehandelt wird entspricht der inneren Logik des Systems. Denn die Zahl der „Genies“ muß zum einen gering sein - sie muß es sein, sonst hätten die Verwerter ihres Wertes ein Legitimationsproblem, wenn es zuviele Genies gibt. Zum anderen heisst das, daß Originales und Neues immer zu einem bestimmten Teil notwendig zur Legitimierung des Konkurrenzsystems beitragen kann. Es lebt zwar die Konkurrenz gerade von der Innovation, die dem Konkurrenten gegenüber einen Vorteil verspricht, aber der Kulturindustrie ist auch klar, daß ein großer Teil des Absatzes durch den Mainstream des Alten und Bekannten erfolgt. Wer sein Geld für Beethoven ausgibt weiß eben was er kriegt (oder glaubt es zu wissen) - bei zeitgenössischen Komponisten sieht die Sache schon anders aus.
Das Verhältnis von Tradition und Neuem ist durch die kapi- talistische Warenform aufs Schärfste pervertiert. Selbstverständlich freuen sich Menschen immer wieder an Neuem. Aber unter der Praxis der Konkurrenz entsteht Neues nicht aus inneren Gründen sondern aus der Notwendigkeit, wahrgenommen zu werden, auf dem Markt zwischen den vielen Marktschreiern der Lauteste, Bunteste, Verrückteste, kurzum derjenige zu werden, den alle kennen müssen. Immer wieder schiebt sich im Prozeß kultureller und künstlerischer Produktion die Verwertung der selbst- produzierten Waren vor die inhaltliche Arbeit. Das Motto lautet: womit kann ich reüssieren?
Daraus folgt das Gegeneinander der Produzenten, der Kampf aller gegen alle, das survival of the fittest.
Kein Gedanke an Inhalte.


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Intensive Nutzung der innerdisziplinären Netzwerke Kasseler Künstler - Austausch grenzüberschreitend statt Schmoren im eigenen Saft.

Wichtig ist, es zu ermöglichen, qualitätsvolle Kunst und Kultur nach Kassel zu holen und Kasseler Künstlern und Kulturschaffenden Chancen über Kassel hinaus zu eröffnen. Dabei könnten die innerdisziplinären Kontaktnetzwerke der einzelnen Kasseler Produzenten in alle Welt weit besser genutzt werden.
Vorsicht!: Wir sollten aufpassen nicht in eine „Standortkonkurrenz“ in Sinne von „WIR in Kassel“ abzurutschen. Da gibt es in KS einen frucht(furcht)baren Nährboden.

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Kulturpolitiker und Verantwortliche der Verwaltung müssen immer einen genauen Einblick in die Aktivitäten der Kultur- und Kunstszene haben. Dies geht NICHT vom Schreibtisch aus. 

Sie sind auch Teil des Publikums. Das kulturinteressierte Publikum steckt in einer Misere.
Das heutige Arbeitsleben ist durch den fast vollständigen Mangel an Demokratie gekennzeichnet. Die Produkte der Arbeit stehen nicht in der Verfügung der Produzenten. Vielmehr sehen sich die Produzenten bloß als Arbeitskräfte, die ihren Preis haben. Sonst nichts. Es verwundert darum nicht, wenn die so erlernte Selbstverständlichkeit einer inhaltlichen Beliebigkeit der eigenen Arbeit zusammenfällt mit einem sich stets steigernden Desinteresse, jenseits reiner Lohnpolitik sich als verantwortlich für das Gesamt des gesellschaftlichen Lebens zu sehen, d.h. sich auch verantwortlich und interessiert zu zeigen an kulturellen Arbeiten. Die adäquate Folgerung ist für den herkömmlichen Produzenten: am Arbeitsplatz habe ich nichts zu sagen, in der Freizeit lasse ich mich bedienen. Die Abschaffung der Teilhabe am ökonomischen und kulturellen Prozess jeder Gesellschaft ist die Folge. Ich bediene, ich werde bedient.
Die Maxime dieser Haltung ist: schnelle und schmackhafte Befriedigung. Wie bei McDonald. Gefordert wird dann eben auch: McMusic, McLiterature, McTheatre etc.

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Quoten, Sponsoring, Zwang zu fragwürdigen Kooperationen: all das behindert eine lebendige Kultur mehr als daß es ihr nützt.

Es wird viel über Vermittlung geredet. Vermittlung der Produktionen braucht Geld. Sponsoring oder Kooperationen sollen helfen. Es sind Steckenpferde moderner Kulturpolitik, neben dem der Kulturwirtschaft, die gerade so vehement entdeckt wird.
Jede gute Produktion, eingebettet in eine sorgfältig geplante Infrastruktur und eingebettet in sorgfältig geplante Strategien ihrer Präsentation vermittelt sich selbst. Sponsoren und Kooperationspartner aber legen in der Regel andere Maßstäbe an und sorgen so für starke Irritationen.
Die selbstätige und direkte Auseinandersetzung mit kulturellen Arbeiten und künstlerischen Werken ist die Basis jedes Verstehens. Das erfordert Zeit und die Lust an der Vertiefung in die Sache. Kulturpolitik muß lang und mittelfristig dieses Moment in allen gängigen und neu zu etablierenden Bildungseinrichtungen im Auge behalten. Das kulturell-künstlerische Potential des Menschen zeichnet ihn als solchen aus.
Selbstverständlich zeichnet ihn auch seine Fähigkeit aus, sich unters Lohndiktat des Privatunternehmers zu ducken und alle seine Potenzen aus erzwungener Liebe zur entfremdeten Arbeit unentwickelt zu lassen. Aber fortschrittliche Kulturpolitik wird schwerlich jene sklavischen Tugenden fördern, sondern das genaue Gegenteil.
Die Frage heisst: wem der Produzenten und wem der potentiellen Adressaten nutzt welche kulturelle Vermittlungsstrategie am besten. Wer braucht wen wann, oder könnte brauchen.
Ziel der Vermittlung ist die Verbindung herzustellen zwischen Menschen, die sich um denselben Inhalt herum zusammenfinden, aus einem gemeinsamen Interesse.
Dieser Inhalt kann nicht die Geldform unseres täglichen Verkehrs sein. Es darf nicht sein, daß alle kulturellen und künstlerischen Arbeiten das Ziel haben, lediglich einen hohen Preis für das Produkt zu realisieren.
Das Sponsoring schadet jeder inhaltlichen Vermittlung, weil es eben nicht auf einem inhaltichen Interesse von gleich zu gleich beruht, sondern weil es Kultur und Kunst nur unter den Prämissen der Warenzirkulation begreift. Hier ist keine gemeinsame Ebene zu finden.
Die Firmen sind ordentlich zu besteuern, die Steuern über die Kommunen auszuschütten. Und anteilig dem Kulturetat zukommen zu lassen. Vorläufig so, jedenfalls.
Alle Nebeninteressen jenseits der der Produzenten, Rezipienten und ihrer unmittelbaren Verbindung, zerstören über kurz oder lang den demokratischen Austausch von Kultur und Kunst.
Beispiel: will man Neue Musik in der Brüderkirche hören, heisst das, sich auch noch unerträgliche Predigten anhören zu müssen. Ein wahrer Ekel. Oder: jene Ausstellung im Südbahnhof, bei der die Bilder an den Wänden durch ein in der Mitte des Raumes auf einem Podest präsentierten, neuen Automodells kontrastiert werden. Ekelhaft.
Dort wo aus wirtschaftlichen Erwägungen gesponsort wird entsteht eine asymmetrische Situation - Rang und Wert des Sponsors übertragen sich in gewissem Sinne auf die ausgestellte Kunst, und gewichten diese neu im Rahmen einer Bedeutungsübertragung. Denn: wenn schon BMW hier sponsort, dann muß´es auch was Gutes sein. Wer es nicht bis zu BMW schafft, ist eben nicht so gut.
Gegen solche Mechanismen muß eine fortschrittliche Kulturpolitik arbeiten.



17
Der Separatismus der existierenden Institutionen muß aufgebrochen werden, damit Vernetzungen, Querverbindungen, arbeitsspezifische Synergien entstehen können.

In Kassel existiert immer noch ein recht ausgeprägter Hermetismus. Wenige schauen über ihren spezifischen Tellerrand, sind fast ausschliesslich mit sich selbst und einem mehr oder weniger kleinen Kreis Verschworener zugange. Hier gäbe es eine ganze Menge Kontaktmöglichkeiten zum Nutzen der gesamten Kasseler Kultur. Das wäre durch geeignete Maßnahmen kulturpolitischer Steuerungsstrategien zu erreichen. Z.B. Ausschreibung interdisziplinärer Projekte zur Vernetzung der verschiedenen Kunstformen in Kassel; oder: Förderung von Projekten zwischen Studenten der Hochschulen mit Kasseler Künstlern; oder: ortsspezifische Angebote an verschiedene Initiativen in Kassel: z.B. Arbeiten speziell für das Gieß- haus/Ballhaus/Areale der Aue etc.pp
Es gibt da eine Unzahl von Möglichkeiten.

18
Orte müssen geöffnet werden für die Bedürfnisse der Produzenten hier in der Stadt. Ausschliessliche Zugriffsrechte hochsub- ventionierter Einrichtungen auf ihre Spielorte müssen gelockert werden und dürfen nicht durch horrende Mieten künstlich blockiert werden (z.B. Südflügel Kulturbahnhof; Konzertsaal Musik- kademie, TiF).

Jede kulturelle oder künstlerische Aktivität braucht Orte der angemessenen Kommunikation. Wenn man sich von der falschen Ideologie von Großereignissen einmal gelöst hat, muß man sich auch klar darüber sein, daß die kleineren und mittleren Präsentationsformen selten jene Orte bespielen können, die zu ihnen passen, einfach, weil sie die horrenden Mieten nicht zahlen können (Beispiel Südflügel des Kulturbahnhofs).
Kommunale Kulturpolitik muss sich neu überlegen, wie sie die Infrastruktur der verschiedensten Orte zugänglich macht für alle Produzenten, ob mit dickem oder schmalem Etat.


19
Verwaltung und Kulturpolitik müssen transparenter werden, die undemokratische Entscheidungskultur gehört abgeschafft.

Es gibt keinerlei öffentliche Kontrolle über die Strategien der Verwaltung und ihrer kulturellen Förderungen. Im Kulturamt läuft man immer gegen eine Wand des Lächelns und der Versagung.

20
Schaffung von handlungsfähigen Beratungs- und Entscheidungs- gremien mit Produzenten, Politikern und Verwaltungsfachleuten, die nach dem Rotationsprinzip abgelöst werden. Veranstalter und Vermittler könnten als beratende Organe in den Gremien mitarbeiten.

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Zur Vorbereitung, Durchführung und Begleitung dieser Gremien wäre eine PERMANENTE KULTURPOLITISCHE KONFERENZ einzurichten.

Diese Konferenz könnte die Basis für eine demokratische und qualtitätsvolle Kultur in Kassel werden. Sie könnte sich um wichtige Inhalte kümmern, z.B. die notwendig anliegende Ein- führung eines Kulturtickets; die Durchsetzung von Ausstellungshonoraren für Künstler; die Rekommunalisierung der Musikschulen; die Aufgabe der Anbindung von Mitarbeitern in Betrieben und Verwaltungen an die Kasseler Kultur (spezielles Kulturticket); u.v.m.


Für Schüler und Studenten, für Arbeitslose und Asylanten, frisch Zugezogene und der Sprache nicht mächtige sollte es ein fein abgestuftes Kulturticket geben - bis hin zu freiem Eintritt in städtischen Einrichtungen, incl. der Theater (hier wäre es einfach, da nie alle Vorstellungen ausverkauft sind; man könnte auch eine Quotierung einführen, d.h. jeweils 10% der Sitzplätze bleiben bis 10 Minuten vor Kassenschluß für Freikarten an spezielle Gruppen reserviert. Manchen Künstlern wäre es lieber, wenn das nur halbvolle Haus noch ein bißchen besser besetzt wäre.)
Die Vermittlung in den Schulen ist ein besonderes Problem, das die Curricula auf Länderebene betrifft. Aber auch hier wären starke Korrekturen am herkömmlichen Modell vorzunehmen.
KulturTicket: Warum nicht auch als Angebot an Belegschaften (ähnlich dem JobTicket der KVG). Anregung von Kultur-Arbeitskreisen in den Betrieben. Gegenleistung der Kultur- schaffenden: Einführung, Heranführung und Beratung...
Fortschrittliche Kulturpolitiker müssten sich die Frage stellen, wie Kunst und Kultur in die Betriebe und Verwaltungen zu bringen ist. Eine Öffnung der demokratie- und zumeist auch kulturfreien Zonen hinter den Werkstoren und Verwaltungspforten wäre wünschens- wert. Kultur findet doch in der Regel nur in der Chefetage statt und dann auch nur in der Form als Ausstellung von Anlagekapital. Hier ist Kooperation mit der Wirtschaft sinnvoll und angesagt.
Im übrigen glänzt die Parteien auch nicht gerade mit eigen- ständigen kulturellen Aktivitäten.
Apropos Rekommunalisierung der Musikschulen: Die „Privatisierung“ der nordhessischen Musikschulen in e.V.s sollte aufgehoben werden. Kommunale Musikschulen (oder noch besser eine gemeinsam von den Kommunen getragene nordhessische Musikschule) könnten Ressourcen sparen und gleichzeitig Angebot und Flexibilität verbessern. Widerstände sind hier z.T. die lokalen Vorstände oder auch Schulleiter, die um ihren Einfluss bangen. Leidtragende sind seit langem die Musikschullehrer, die auf ihrem Rücken bei untertariflicher Bezahlung und schwankenden Deputaten die Finanzrisiken der Vereine tragen.

22
Das Steuerwesen muß im im Hinblick auf diese Aufgaben geändert werden (z.B. Gewerbesteuerreform).
Die vorhandenen Etats neu überdacht und eventuell umstrukturiert werden.


Die Gefahr besteht, dass durch zusätzliche Gremien/Strukturen (auch wenn sie ausnahmsweise basisdemokratisch legitimiert sind), die Verteilungsspielräume für die Förderung von konkreten Projekten einschgeränkt werden könnten. An sich wäre es wünschenswert einen Verwaltungstopf und einen Topf für inhaltliche Angebote zu trennen. Es bleibt aber das Dilemma, dass die Forderung nach mehr Infrastruktur und struktureller Dienstleistung zunächst auf der Ausgabenseite zu Buche schlägt. Wenn „man“ nicht bereit ist, auch auf der Einnahmeseite aktiv zu werden (Steuern, Umlagen etc.) wird sich das Problem kaum lösen lassen.











































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